Norderneyer Bauweise

Nunja, was ist Norderneyer Bauweise? Es sind jedenfalls nicht die kleinen Einfamilienhäuser mit ihrer typisch ostfriesischen roten Backsteinfassade. Auch Reed-gedeckte Häuser, wie man sie auf den nordfriesischen Inseln findet, sucht man hier (mit einer Ausnahme) vergebens. Man muß schon etwas in die Geschichte der Insel eintauchen, um typische Inselbebauung zu finden, es gibt leider nicht mehr viel davon. Das alte Fischerdorf gruppierte sich rund um die evangelische Kirche bis hinüber zu den Gässchen um die Oster- und Langestraße. Dort findet man noch das ein oder andere Haus, das sich zwischen der hochtrabenden Nachbarschaft hat über die Zeiten retten können. Hier wohnten die Fischer, die den Haupterwerbszweig der Insel darstellten. In die Dünentäler duckten sich daher kleine Häuschen mit einfachem Satteldach, eine Gute Stube, die nicht selten einen Schlafschrank, einen sogenannten Alkoven, statt eines Schlafzimmers beherbergte. Im Gegensatz zu heutigen Verhältnissen war ja nicht viel "Tand" aufzubewahren, und mangels festem und trockenen Baugrund gabs in der Regel auch keine Keller. Die Liste der Häuser aus dieser Zeit ist leider nur noch kurz und manche sind im Laufe der Zeit degeneriert - wer mag es den Besitzern verübeln? Einen guten Eindruck über die Lebensweise der alten Norderneyer vermittelt das Heimatmuseum im idyllischen Argonnerwäldchen.

Mit dem aufkommenden Tourismus mußten die Gäste einquartiert und so die Häuser erweitert werden. Zuerst stand man dem "Fremd-Schiet" recht skeptisch gegenüber, richtete sich jedoch widerstrebend mit dem neuen Erwerbszweig ein. Die Skepsis gegenüber allem Neuen und dem, was vom Festland so kommt, hat sich in vielen Bereichen bis heute gehalten. So ist Internetzugang auch im zweiten Jahrzehnt der allgemeinen Verbreitung auf der Insel keineswegs selbstverständlich: "So'n neumodschen Kroom kommt mi nich int Huus..."

Aber zurück zu den Baustilen: Irgendwo mußten die Gäste Frühstücken, also bauten die Norderneyer Veranden. Diese Bauweise ist allerdings typisch und überall zu sehen. Wer immer einen kleinen Vorgarten hatte, baute eine Veranda an, ganze Straßenzüge haben heute noch mehr oder weniger diesen Charakter, z.B. die Seilerstraße. Manche Veranden sind mittlerweile zum quasi-Bestandteil des Hauses ausgebaut worden, einige sind sogar zweistöckig (Friedrichstraße). Da lohnt es sich, mal mit wachem Auge durch die Straßen der Stadt zu ziehen.

In der Kaiserzeit war Norderney einfach "hip": Adelige und Reiche zog es in die Sommerfrische auf die Insel, raus aus dem stickigen Berlin, Weimar, Frankfurt und dem russigen Ruhrgebiet. Der damaligen Mode entsprechend wurden die Häuschen aufgestockt zu quadratischen Kästen, mit einer schnörkeligen Fassade versehen und weiß gekalkt. Der Bauwut festländischer Investoren sind etwa die klassizistischen Schmuckstücke des ehemaligen Festischen Kinderheims am Westbad oder das Hotel Germania an der Milchbar zu verdanken, die Fassade der OLB in der Strandstraße und das Reedereigebäude der Frisia, sie stehen heute natürlich alle unter Denkmalschutz. Die Norderneyer rüsteten ebenfalls auf, manchmal fehlte das Geld für eine ansprechende Fassade, manches wurde später dem Zeitgeist entsprechend nachgerüstet. Schöne Beispiele für Gelungenes und nur-Zweckmäßiges kann man z.B. in der Friedrichstraße sehen wenn man den Blick von den Geschäften im Erdgeschoß etwas in die Höhe schweifen lässt. Eine der schönsten ist die Fassade der Villa Felicitas im Damenpfad, da lohnt sich ein Guck!

Nach dem 2. Weltkrieg wuchs die Bebauung bis zur heutigen Meierei, sie stellt die selbstauferlegte östliche Grenze dar. Mangels weiterem Bauland kann heutzutage oft nur noch aufgestockt bzw. ersetzt werden, die Preise für Grundstücke und Häuser sind für die Einheimischen kaum noch erschwinglich, da Festländer die Insel als Anlegeobjekt entdeckt haben, eine Entwicklung, über die die Insulaner ziemlich unglücklich sind. Letztlich verhökern sie aber selbst oft an den Meistbietenden statt an den Nachbarn was nicht mehr selbst bewirtschaftet wird - wer will es ihnen verdenken?

Jenseits der Winterstraße, in den sogenannten Zonen 2 und 3, sind viele kleine Häuser in typisch ostfriesischer Backsteinbauweise entstanden. Die Insel war im Krieg Standort für eine starke militärische Besatzung rund um den Alten Horst (an der Windmühle), die den Wasserflugplatz im Bereich Up Süderdün zu schützen hatte. Das Haus Storchennest an der Weststrandstraße gegenüber dem Parkhotel war das Standort-Hauptquartier, der Name kommt von den damals verbreiteten Fieseler-Storch-Flugzeugen. Die roten Garnisonshäuser an der Beneke-, Mühlen- und Richthofenstraße sind heute im Besitz der Norderneyer Wohnungsbaugesellschaft und garantieren bezahlbaren Wohnraum. Derzeit werden sie aufwändig energetisch saniert.

Kleine Reihenhäuser für Familien der Offiziere entstanden in der Nordhelmsiedlung, auch hier ist mittlerweile jeder verfügbare Quadratmeter ausgebaut und genutzt. Manchmal fragt man sich aber schon, ob man die ein oder andere Bausünde nicht hätte verhindern können, denn es gibt ja auch gute Beispiele. Insgesamt ist diese ostfriesische Backsteinbauweise sicherlich typisch für die Gebäude der Nachkriegszeit, wenn auch nicht "typisch Norderney".

Bleibt das was wir in den letzten vierzig Jahren ertragen mußten: Warum hat die Politik das nicht verhindert? Da sind die blauen Hochhäuser und der Kaiserhofbau an der Kaiserwiese entstanden, die sogenannte "Alte Teestube", die den Namen nicht verdient, der scheussliche Betonbau am Weststrandaufgang der Strandstraße usw. usf. Letztlich sind diese Bauten von Investoren errichtet worden, die kaufen, abreissen, neu bauen und dann die Einzelteile schnellstmöglichst verscherbeln wollten, also ausschließlich am "Geld machen" interessiert waren. Dabei kann man an einzelnen Objekten sehen, daß Effizienz nicht scheusslich sein muß, so etwa am Neubau des Düsseldorfer Hofes, denn nur was "Charakter" hat, läßt sich teuer an den Mann bringen. Nicht nur das Gesicht einer Stadt macht die Lebensqualität aus, sondern auch das Gesicht jedes einzelnen Hauses. Von Norderneyer Bauweise kann man aber nicht mehr sprechen, da fordern Zeitgeist und Profit ihren Tribut.

Bleibt zu hoffen, daß sich jeder einzelne Insulaner bewußt ist, daß es nicht nur um umbauten Raum geht, sondern um die Attraktivität der Insel als Gesamtbild. Wenn Sie als Gast die Scheusslichkeit auch Scheusslichkeit nennen, dann werden die Insulaner reagieren. Ich glaube, wir sind da mittlerweile auf einem gar nicht so falschen Weg...